Meine Krankengeschichte (Kurzfassung)
Im Jahr 1972 hatte ich im Alter von 17 Jahren die ersten erhöhten Blutzuckerwerte. Ich befand mich damals also vermutlich schon im Stadium 2 des Typ 1 Diabetes. Die Aufklärung durch den Hausarzt war dürftig und ich nahm als Jugendlicher die Werte nicht als so bedrohlich wahr. Zudem wollte ich damals nicht aus der Peergroup herausfallen und änderte daher mein Ess- und Trinkverhalten nicht oder höchstens nur geringfügig. Einmal im Quartal ging ich morgens nüchtern zum Hausarzt, um den Blutzucker messen zu lassen. Die Tage vorher achtete ich auf meine Ernährung und aß weniger Süßigkeiten und vermied Bier. Wenn der BZ-Wert unter 180 mg/dl lag (Nierenschwelle), war das in der subjektiven Wahrnehmung okay. Damals gab es noch keinen HbA1c-Wert.
Erst 1976 wurde ich als Notfall mit einer Ketoazidose
(Stoffwechselentgleisung) ins Krankenhaus eingeliefert. Ich war total
abgemagert (nur noch 58,5 kg bei einer Körpergröße von 185 cm, BMI 17,1) und
wurde in der Inneren eines kleinen Krankenhauses auf Insulin eingestellt. Es
gab damals keine Diabetikerschulung, sondern nur Sprüche wie: "Ab jetzt müssen Sie sich
spritzen und dürfen nur eine gewisse Menge Kohlehydrate essen, sonst sind Sie in fünf
Jahren tot". Morgens bekam ich eine Brotdose mit fünf Scheiben Brot
hingestellt mit der Bemerkung "Teilen Sie sich das für das Frühstück,
die Zwischenmahlzeit(en) und das
Abendessen selbst ein". Dazu gab es noch ein Mittagessen. Es war also eine
typisch konventionelle Therapie (CT), bei der man das Insulin spritzt und dann
je nach Wirkungskurve des Insulins Kohlehydrate zu sich nehmen muss, um nicht in
eine Unterzuckerung (Hypoglykämie) zu rutschen. Das setzte meinem Leben
zeitliche Vorgaben, die mich sowohl beim Studium als auch später im Berufsleben
einschränkten.
Zudem hatte ich in der Anfangsphase der Insulinpflicht
die irrige Ansicht, dass die Menge des gespritzten Insulins mit der Schwere der
Krankheit in einem direkten Verhältnis steht.
Oder anders formuliert: Je mehr Insulin ich spritzen muss, desto kränker bin
ich. Das führte dazu, dass ich tendenziell eher zu wenig Insulin
spritzte, um mich tendenziell etwas gesünder zu fühlen.
Heute weiß ich, dass ich genau die benötigte Menge Insulin
spritzen muss, um möglichst gesund zu leben.
Mein erstes verordnetes Insulin war ein sogenanntes Depotinsulin CS (Schweineinsulin von Hoechst, U40, d.h., 40 I.E./ml). Obwohl es der Name nahelegt, hatte es nichts mit den heute üblichen Basalinsulinen zu tun, sondern war ein Kombinationsinsulin mit schnell und langsam wirkenden Insulinsorten. Ich spritzte eine Gesamttagesdosis um 11 Uhr und musste dann um 12 Uhr mein Mittagessen zu mir nehmen, um nicht in eine Hypoglykämie (Unterzuckerung) zu rutschen. Nach meinem heutigen Wissen war diese Diabeteseinstellung katastrophal, denn das morgendliche Frühstück war nicht durch eine Insulingabe abgedeckt. Heute weiß ich, dass ich um 11 Uhr BZ-Höchstwerte hatte, die dann durch die massive Insulininjektion gegen 12 Uhr stark abfielen. Es gab damals weder eine Blutzuckerselbstkontrolle noch einen HbA1c-Wert, der die Langzeiteinstellung des Diabetes wiedergibt. Die einzige Kontrollmöglichkeit waren Urinkontrollstäbchen. Wenn sie sich verfärbten, dann wusste man, dass der Blutzucker über der Nierenschwelle (>180 ml/dl) lag.
Irgendwann wechselte ich dann auf ein Humaninsulin, welches bei mir über den gesamten Tag verteilt deutlich schlechter (kürzer) wirkte als das Schweineinsulin. Wegen der kürzeren Wirkung stieg ich dann auf zwei Injektionen pro Tag um. Soweit ich mich erinnere, gab es ab Anfang/Mitte der 1980er Jahre dann den HbA1c-Wert und ich war bei einem Internisten in Behandlung, wurde also fachlich etwas kompetenter betreut. Soweit ich mich erinnere, gab es in dieser Zeit auch die ersten Blutzuckerselbstkontrollen mit Teststäbchen. Zu dieser Zeit gab es allerdings für den einzelnen Diabetiker noch keine BZ-Messgräte, sondern man musste das Teststäbchen anhand einer auf der Dose abgedruckten Farbskala bestimmten BZ-Wertbereichen zuordnen, Fehler nicht ausgeschlossen. Von 1985 bis Ende der 1980er Jahre war ich nach einem Umzug auch wieder bei einem Internisten in Behandlung. Als der in Rente ging, wechselte ich zu einem Arzt für Allgemeinmedizin (Hausarzt).
Obwohl ich regelmäßig zu einer Augenärztin ging und diese meine Augen noch kurz vorher ohne Befund untersucht hatte, traten Anfang der 1990er Jahre die ersten Spätfolgeschäden (diabetische Retinopathie, Blutungen in einem Auge) auf. Ich nahm dann endlich an einer Diabetikerschulung teil und stellte auf intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT, Basis-Bolus-Therapie) um, bei der der Basalbedarf durch ein langwirkendes Insulin abgedeckt wird und zum Essen ein kurzwirksames Insulin gespritzt wird. Damals erhielt ich auch mein erstes BZ-Messgerät ein großes und teures Teil, welches die BZ-Werte genauer anzeigte als der vorherige rein visuelle Farbvergleich.
Zwischen 1991 und 1993 wurden meine Augen gelasert, zuletzt an der Uni-Klinik in Marburg, die damals den Ruf hatte, die erste Adresse im Bereich Augenheilkunde zu sein. Der Umgang mit den Patienten war am Ende aber nicht besser als meine Erfahrungen 1976 im kleinen Provinzkrankenhaus. Zum Abschluss der Laserbehandlung zeigte mir die Oberärztin einen großen Buchstaben (Sehstärke 5%) und meinte: "In zwei bis drei Jahren können Sie gerade noch so viel sehen". Zum Glück beruhigte mich mein damaliger Chef (psychiatrischer Chefarzt), dass die auf Angiographien basierenden medizinischen Prognosen kaum valide und wenig reliabel (zuverlässig) seien. Das bewahrte mich wahrscheinlich vor einer reaktiven Depression. Ich habe heute, nach weiteren Laserbehandlungen zwischendurch, immer noch eine Sehstärke zwischen 70 und 80%.
Exkurs: Wäre die von der Augenärztin prognostizierte
Entwicklung eingetreten, dann hätte das vermutlich mein berufliches Aus,
eventuell eine Frühberentung und einen erheblichen sozialen Abstieg bedeutet und
das mit einem Kind im Vorschulalter. Die geäußerte schlechte Prognose führte
aber dazu, den vorhandenen weiteren Kinderwunsch zurückzustellen. Erst als sich
nach zwei Jahren meine Sehstärke nicht verschlechtert, sondern sogar verbessert
hatte, haben wir uns für ein weiteres Kind entschieden. Bevor wir uns überhaupt
für Kinder entschieden haben, haben wir uns von der humangenetischen
Beratungsstelle an der Uni Münster über die Vererbbarkeit von Typ 1 Diabetes
aufklären lassen. Die damalige Aussage (ca. 1987) war: Das Risiko der direkten
Vererbung von Typ 1 Diabetes ist für sich allein genommen nicht höher als das
allgemeine Risiko eines Gesunden, ein Kind mit irgendeinem Gendefekt (Trisomie,
etc.) zu bekommen. Keines unserer Kinder ist bisher an Diabetes erkrankt.
Anders
ist die Sachlage bei Typ 2 Diabetikern: Dort ist das Risiko, dass der
Typ 2 Diabetes an das Kind vererbt wird, deutlich erhöht.
Ein weiterer entscheidender Fortschritt ergab sich durch die Umstellung auf Analog-Insuline. Damals erfolgte auch die Umstellung von Insulin in Durchstechflaschen (U40, 40 Einheiten/ml) mit Spritze (1ml für bis zu 40 Einheiten, 2ml für bis zu 80 Einheiten) und separater langer und dicker Nadel zu in Insulin-Pens verwendbaren Ampullen (U100, 100 Einheiten/ml) mit feineren Pen-Kanülen. Ich begann mit Humalog (schnellwirkend) und Lantus (langwirkendes Basalinsulin). Das Humalog wirkte schneller als das vorher verwendete Humaninsulin, so dass ich den Spritz-/Essabstand deutlich verkürzen konnte und auch Korrekturen besser möglich waren, was insgesamt die Lebensqualität verbesserte. Das Lantus spritzte ich anfänglich nur einmal am Tag, da es als entsprechend langwirkend beworben worden war. Die Wirkung ließ jedoch wesentlich früher nach, so dass ich wieder auf zwei Dosen morgens und abends umstellte.
Aktuell verwende ich Toujeo (U300, 300 Einheiten/ml) als Basalinsulin (Tresiba ist
eine Alternative) und Lyumjev als schnellwirksames Insulin.
Das Toujeo hält bei
mir tatsächlich über einen Tag vor, muss also genauso wie das alternativ zu
verwendende Tresiba nur einmal täglich gespritzt werden.
Das
Lyumjev ist (zumindest bei mir) extrem schnellwirkend. Deshalb benötigt es einen nur sehr kurzen
Spritz-/Essabstand und kann sehr gut bei Korrekturen eines zu hohen Blutzuckerspiegels
verwendet werden. Seine Wirkung lässt schon nach zwei Stunden stark nach und
man kann dann schon ohne Angst vor überlappender Wirkung weiter
korrigieren, wenn das gewünschte BZ-Niveau noch nicht erreicht ist.
Allerdings hatte ich in der Umstellungsphase Probleme mit Schmerzen und
Hämatomen (Blutergüssen) an den Einstichstellen, die aber nach einer gewissen
Zeit nicht mehr auftraten.
Mein dunkles Geheimnis: Bis 2019 habe ich keine Diabetologin konsultiert, sondern alle Insulinumstellungen zusammen mit dem Hausarzt gemeistert. Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich bei Fragen auf einen alten Schulfreund (Internist und Nephrologe) zurückgreifen konnte, der mir mit kompetentem Rat zur Seite stand. Erst die Anforderung der Krankenkasse, für die Bewilligung eines Sensors die Verordnung eines Diabetologen vorzulegen, führte dazu, dass ich mich ab diesem Zeitpunkt in fachärztlicher Behandlung begab.
Fazit: Die Diagnose "Diabetes Typ 1" war erst einmal bedrückend, da es
sich um eine chronische Krankheit handelt. Ich fragte mich, warum es gerade mich
getroffen hat und wurde mir bewusst, dass ich mir ab diesem Zeitpunkt bis zu meinem
Lebensende täglich Insulin spritzen muss und ein relativ geregeltes Leben ohne
große Ausschweifungen führen
sollte. Es war also ein stressendes Lebensereignis, welches ich erst einmal
verarbeiten musste.
Aus meiner langjährigen Erfahrung meine ich, dass man sich
nicht zurücklehnen und auf den Arzt verlassen sollte. Man sollte sich
stattdessen als Patient aktiv so viel Wissen aneignen, dass man
Therapieanpassungen auch selbstständig vornehmen kann und nicht bei jeder
Kleinigkeit den Arzt konsultieren muss. Durch diese Vorgehensweise
gewann ich das Gefühl, dass nicht die Krankheit mich beherrscht, sondern dass
ich die Krankheit selbst managen kann. Klar gibt es Tage, an denen ich mir die
dann meist hohen Glukosewerte nicht logisch erklären kann und eventuell sogar schreiend durch das Haus
laufe ("Scheiß Diabetes"). Aber diese Tage sind seltener
geworden und gehen auch wieder vorüber.